Teil 1 der Thron und der Erbarmer
Wie kann man begreifen, was jenseits der eigenen Verstandeskraft liegt? Wie lassen sich die höchsten Wahrheiten mit unserer materiell und geistig erfahrenen Realität in Einklang bringen?
Wenn uns eine Offenbarung trifft, eröffnet sie ein Spektrum, das beides an uns heranträgt. Doch der Mensch ist ein sonderbares Wesen, und so mancher Unhold stürzt sich auf die Geheimnisse zwischen unmittelbarem Erleben und unvorstellbarer Transzendenz. Gerade dieser Spielraum lädt zu Spaltung und Streit ein, denn er bietet reichlich Raum für Interpretationen.
Der Mystiker hingegen ist aufgerufen, die Differenz beider Welten zu durchschreiten und seine Reise hinauf und wieder zurück anzutreten.
Doch von Anfang an: Was ist der Kern jeder islamischen Glaubensschule – ob Ahl al-Hadith, Muʿtazila, Aschʿarīya oder Māturīdīya?
Es ist die Erhabenheit des Weltenerschaffers. Wie bereits in anderen Artikeln dargelegt, steht im Zentrum des rationalen Gottesbeweises stets die notwendige Erkenntnis, dass Ort, Raum, Zeit, Kausalität und alle weiteren Begriffe des Erschaffenen nicht auf Ihn zutreffen. Er ist der ganz Andere.
Dies spiegelt sich in mehreren offenbarten Versen reiner Transzendenz wider. Sie sind sprachlich eindeutig und vollkommen klar:
لَيْسَ كَمِثْلِهِۦ شَىْءٌۭ ۖ
- Er ähnelt nichts und niemandem. (42:11)
وَلَمْ يَكُن لَّهُۥ كُفُوًا أَحَدٌۢ
- Er ist niemandem gleich. (112:4)
Aus dieser Grundlage heraus sind alle weiteren Verse zu verstehen, die uns in die Nähe des erschaffenen Seins führen. Mit jeder Schöpfungsebene, die Gott durch Seine Manifestation in die Existenz bringt, zeigen sich widerspiegelnde Annäherungen Seiner Namen an die erschaffenen Wesen. Einige äußerst talentierte Metaphysiker haben unterschiedliche Modelle entworfen, um all dies zu erklären. Eines davon stammt von Ibn ʿArabī.
In seiner Darstellung geht er von einer kosmologischen Emanation aus, die mit jedem Schritt dichter und materieller wird. Er nennt sie Horn des Lichtes. Jede Stufe der Emanation ist eine Verschleierung der absoluten Existenz Gottes hin zur relativen Existenz des Menschen.
Am Anfang der Schöpfung stehen nach einigen Hadithen die vier großen Prinzipien, aus denen sich in der weiteren Emanation die Elemente und alles Weitere bilden. Dies geschieht gemäß der Aussage: „Der Thron war über den Wassern.“
Siehe Hadith Bukhariy:
انَ اللَّهُ وَلَمْ يَكُنْ شَىْءٌ غَيْرُهُ، وَكَانَ عَرْشُهُ عَلَى الْمَاءِ، وَكَتَبَ فِي الذِّكْرِ كُلَّ شَىْءٍ، وَخَلَقَ السَّمَوَاتِ وَالأَرْضَ
„Allah war und nichts außer Ihm, dann war der Thron über dem Wasser und der Stift schrieb alles auf die Tafel, dann wurden Himmel und Erde erschaffen.“
Hier erkennen die Interpreten, dass Gott als Erstes die beiden Prinzipien erschaffen hat: das aktive Herrschaftsprinzip – den Thron – und das passive Prinzip der Hervorbringung – das Urwasser. Diese beiden spiegeln die Polarität wider, die die Welt in all ihren Aspekten durchdringt.
Zwischen ihnen steht das Prinzip der Intelligenz und Strukturierung. Aus diesen 4 überkosmischen Geschöpfen gehen schließlich die 4 Elemente hervor.
Der Thron gehört nicht nur zu den ersten Geschöpfen, sondern ist auch jenes Geschöpf, das mit der elementaren Manifestation besonders eng mit dem Geschaffenen verbunden ist.
Der Vers „Der Erbarmer hat istiwāʾ auf dem Thron vollzogen“ ist hier der zentrale Hinweis.
Ibn ʿArabī erklärte dazu, dass selbstverständlich nicht Gott selbst auf dem Thron wäre oder sich körperlich hingesetzt hätte. Vielmehr manifestierte sich Gott mit Seinem Namen der Erbarmer auf dem Thron. Dies verdeutlicht die wesentliche Beziehung zur gesamten Schöpfung, die unter dem Thron existiert. Es entspricht auch dem Buch, das über dem Thron liegt und in dem geschrieben steht:
„Meine Gnade überwindet meinen Zorn.“ (Buchārī)
– also: Die Namen Seiner Gnade manifestieren sich weit stärker als die Namen Seines Zorns.
Denn der zentrale Name über dieser Schöpfung ist Erbarmen und Gnade.
Was man jedoch nicht verstehen kann und sollte, sind sprachliche Verwirrungen, welche nahelegen könnten, Gott würde als Körper auf einem Geschöpf sitzen.
Weiter in Teil 2.
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