Der Weg des Balad Teil 1 - Tafsir Suratul Balad (90)
Die Surat al-Balad ist eine besondere unter den kurzen Suren des letzten Abschnitts des Qurans, da sie sich zentral mit der Leidproblematik des Lebens befasst.
In der dualistischen Natur dieser Weltebene stehen den aufbauenden Kräften stets auch zerstörerische Kräfte gegenüber. Somit ist jedes Geschöpf auf dieser Ebene durch seine immanente Vergänglichkeit leidbehaftet, da es nichts gibt, das die finale Zerstörung aufhalten kann.
Doch wie man dem Leid begegnet, es im besten Fall integrieren und seine tiefere Sinnhaftigkeit verstehen kann, lehrt uns die Surat al-Balad.
Die Sure umfasst 20 Verse und wurde in Mekka offenbart – zu einer Zeit, in der die Muslime bereits stark unter der Drangsalierung der Figurenanbeter litten. Die Zahl selbst ist bereits interessant, da 20 die Dualität der Dinge in sich trägt und sich in der Quersumme zu 2 reduziert. Balad beginnt zudem mit dem Buchstaben BA, der ebenfalls den Zahlenwert 2 hat und den Dualismus ausdrückt. Dies wird im weiteren Verständnis der Sure noch wesentlich, wie wir sehen werden. Vielleicht findet ihr selbst noch mehr Hinweise auf die Dualität in der Sure...
Grundsätzlich gehe ich in der Erklärung von der spezifischen Bedeutung zur universellen Bedeutung, denn dieser Zugang ist entscheidend, um für die Einzelperson eine praktische Verbindung zum quranischen Wort zu eröffnen. Die spezifische Bedeutung bezieht sich dabei auf den unmittelbaren Anlass der Offenbarung im Leben des Propheten und seiner Gefährten. Die universellen Bedeutungen, von denen es viele gibt und die auf unterschiedlichen Ebenen entdeckt werden können, zeigen den Bezug zum individuellen Lebensweg jedes Einzelnen auf.
Bevor wir in die Details eintauchen, möchte ich auf die grundlegende Struktur der Sure hinweisen:
- Verse 1–4 – Einleitung und grundlegendes Thema
- Verse 5–7 – Umgang mit Leid durch den Unwissenden
- Verse 8–10 – Hinweis auf die Problemlösung
- Verse 11–16 – Das Hindernis
- Verse 17–18 – Das Resultat und die Lösung
- Verse 19–20 – Das Ende des absichtlichen Widerstands
Die Einleitenden Schwüre:
لَآ أُقْسِمُ بِهَـٰذَا ٱلْبَلَدِ
NEIN, ich schwöre bei al-Balad!
Allah schwört bei al-Balad. In der spezifischen Bedeutung ist dies die Stadt Mekka – eine Stadt, die sich durch ihre besondere Stellung auf der Welt und als Standort der ersten Gebetsstätte der Menschheit auszeichnet. Auch gibt es einen Bezug zum Zustand des Mutumainnah aus der vorherigen Sure aber dazu später mehr.
Doch Allah beginnt den Schwur mit LA – Nein, nicht! Dies ist jedoch keine Verneinung des Schwurs selbst, sondern kann als rhetorisches Mittel zur Verstärkung desselben interpretiert werden.
In einer allgemeineren Interpretation ist dieses NEIN eine Absage an die Art und Weise, wie die meisten Menschen mit der Leidproblematik umgehen. Es ist eine Zurückweisung falscher Herangehensweisen an das Leid.
Was z.B. wären diese falschen Zugänge?
Ignoranz, Verdrängung, Verneinung, Aufgabe, Hass oder gewalttätiger nihilistischer Widerstand, Depression, Hedonismus…
NEIN – all das ist keine Lösung!
Denn Balad kann nicht nur als Stadt, sondern auch als Ort oder gar als Ebene verstanden werden. In diesem Sinne schwört Allah bei der Ebene dieser Welt, die das Leid intrinsisch in sich trägt. Aber nicht mit den oben genannten Reaktionen bzw. Einstellungen überwunden werden kann.
وَأَنتَ حِلٌّۢ بِهَـٰذَا ٱلْبَلَدِ
Dieser Vers trägt zwei spezifische Bedeutungen:
- „Und du, oh Muhammad, bist in dieser Stadt für vogelfrei erklärt worden.“
Die Götzenanbeter Mekkas erklärten es für halal, dem Propheten und seinen Gefährten Schaden zuzufügen – entgegen dem heiligen Status der Stadt, in der es eigentlich verboten war, jemanden zu verletzen. - „Und dir, oh Muhammad, wird in dieser Stadt etwas halal“
Dieser Vers enthält die Voraussage der Eroberung Mekkas. Bei dieser wurde dem Propheten erlaubt, die Stadt notfalls mit Waffen einzunehmen – auch wenn dies tatsächlich weitgehend friedlich geschah.
Das Wort Hill trägt jedoch auch die Bedeutung von „einen Berg hinabsteigen“ und „sich an einem Ort niederlassen“. Dies deutet auf eine universelle Bedeutung hin:
„Du oh Mensch, du oh Angesprochener bist in diese Welt hinabgestiegen.“
Dieses Hinabsteigen ist das Hinabsteigen der Seele von dem vorgeburtlichen Ort des Seelenlebens in den Körper dieses irdischen Reiches.
وَوَالِدٍۢ وَمَا وَلَدَ
„Bei den Eltern und den Kindern.“
„Bei der Ursache und der Wirkung.“
Dieser Vers deutet auf eine universelle Wahrheit hin: Durch das fortwährende Entstehen neuer Generationen treten alle Seelen Schritt für Schritt in dieses Leben ein. Dieses ist eine Erklärung des Wortes Khalifah. Der Mensch ist auf dieser Welt als Khalifah gesetzt, als ein aufeinander folgendes Wesen. Jedoch birgt die Abfolge von Ursache und Wirkung auch die Manifestation des Leides in sich, denn durch das Entstehen des Neuen muss die Ursache vergehen und dieses folgt in ständiger unaufhörlicher Abfolge aufeinander. Entstehen und Vergehen wird hier als grundsätzliche Natur der Welt (Al-Balad) dargestellt, woraus dann der nächste Vers eine grundsätzliche Aussage dem Menschen gibt.
لَقَدْ خَلَقْنَا ٱلْإِنسَـٰنَ فِى كَبَدٍ
„Wahrlich, Wir haben den Menschen in Leid und Drangsal erschaffen.“
Auf spezifischer Ebene verweist dieser Vers auf das Leid, das die Gläubigen in Mekka ertragen mussten. Doch die universelle Bedeutung ist vorrangig, denn hier wird vom Menschen im Allgemeinen gesprochen. Und diese universelle Bedeutung bezieht sich auf das Leid das intrinsisch mit der Ebene des Balad und der Abfolge von Ursache und Wirkung, also dieser Dunja verknüpft ist.
Das Wort Al-Kabad, welches auch Leber - also das Organ Leber - bedeutet, weist jedoch schon auf den tieferen Sinn des Leides hin. Denn die Leber ist ein Organ der Reinigung, so wie das intrinsische Leid dieser Ebene, die Kraft der Reinigung der Seelen in sich trägt. Da wo Leid deutlich wird, läuft etwas falsch. Leid weist auf Fehler hin. Dort wo Leid auftritt erkenne wir einen Weg zur Umkehr und zur Reinigung der Sichtweisen. Leid ist das Mittel zum spirituellen Reifen. Leid ist die Ursache für Erleuchtung und Erwachen.
Zusammenfassung allgemeine Bedeutung:
Der Mensch ist in diese Welt gesetzt. Er lebt in ihr als eine Abfolge von Generationen. Diese Welt ist dualistisch und trägt sowohl das freudige Entstehen als auch das leidvolle Vergehen in sich. Das Leid als reinigende Kraft ist das Feuer der Korrektur – so wie die Leber das Organ der Reinigung im Körper des Menschen ist, ist das Leid die korrigierende Kraft, welche schlussendlich zum Guten und zum Erwachen führt.
Die Fehlerhafte Einstellung:
أَيَحْسَبُ أَن لَّن يَقْدِرَ عَلَيْهِ أَحَدٌۭ
يَقُولُ أَهْلَكْتُ مَالًۭا لُّبَدًا
أَيَحْسَبُ أَن لَّمْ يَرَهُۥٓ أَحَدٌ
Die folgenden drei Verse fassen die Grundsätze einer weit verbreiteten fehlerhaften Einstellung zum Leid und zur Welt dar. Sie geben den Kern einer materialistischen Grundansicht wieder. Spezifisch bezieht es sich auf die Feinde des Propheten und ihre Lebenseinstellung. Allgmeiner gefasst ist diese Einstellung tatsächlich sehr weit verbreitet.
„Denkt/Schlussfolgert/Berechnet der Mensch, dass niemand Macht über ihn hat
Er sagt, er hat er hat Besitz in Unmengen aufgewendet
Denkt/Schlussfolgert/Berechnet er das ihn niemand sieht.“
Was ist nun also dieser Kern der fehlerhaften Ansicht. Er lässt sich wie in den Versen auf drei Grundsätze zusammenfassen.
Der erste Grundsatz ist ein ethischer Relativismus, aus dem folgt, dass der Mächtige nimmt, um sein Leid zu stillen, egal was dieses für die Schwachen bedeutet. Der Mächtige erkennt keine Macht über ihn an. Eine gewisse Störung der Wahrnehmung, welche durch ein Übermaß an Macht auftreten kann.
Der zweite Grundsatz ist, dass er Unmengen an Geld und Besitz aufwendet, um sich vom intrinsischen Leid durch maximalen hedonistischen Genuss abzulenken.
Der dritte Grundsatz ist, dass er sein Tun für vollständig belanglos hält und weder die folgen noch einen höheren Sinn erkennen will. Alles ist ein Spiel ohne Konsequenzen. Es gibt’s nichts über das sich nachzudenken lohnt.
Kommt uns dieses bekannt vor? Ja sicherlich, denn dieses Mindset zieht sich wie ein roter Faden durch die moderne Gesellschaft und insbesondere durch die sogenannten muslimischen Länder. Es trifft auch sehr gut die Einstellung vieler Diktatoren im Großen wie im Kleinen.
Alleine die vielen Milliarden an Euros, welche in die Schönheits- und Anti-Aging Industrie fließen, um ja keine Zeichen der abbauenden Kräfte sichtbar zu zeigen, sollten uns zu denken geben und fallen perfekt in dieses Schema.
All die Milliarden welche in sinnentleerte Unterhaltung und maximalen Genuss fließen, nur um abzulenken. Nur um bloß nicht auf die transformierende Wahrheit zu stoßen, dass alles in diesem Balad vergänglich und damit leidhaft ist.
Doch dieser Weg ist ein Irrweg und eine Sackgasse, auch wenn scheinbar die ganze Welt in diese Richtung läuft und darüber lobende Hymnen singt.
Der Ausweg ist eben nicht in dieser undurchdachten intuitiven Fluchtbewegung des unreflektierenden Wesens Mensch zu finden.
Doch wo der Ausweg liegt, erfahrt ihr in Teil 2.
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