Die quälende Entscheidung des Ibn Yunus
Eine Entscheidung von Tragweite lag zum Greifen nah. Erwünscht oder unerwünscht – das war gar nicht zu erfragen. Warum nur musste er diesen Weg nach Hause einschlagen? Die Nebengasse hätte es auch getan und seinen Pfad zu Haus und Herd geebnet. Doch nein, er wollte ja unbedingt rechts abbiegen. Und nun steckte er dort fest wie angenagelt und starrte glotzend auf den rostigen, vernieteten Beschlag des kleinen Vorbaus der Brückenhäusergasse.
Da machte der Mond ihn sichtbar – den Schlüssel seines Schicksals. Ach wären nur die Wolken vor ihm geblieben.
Ibn Yunus könnte einfach von dannen ziehen. Die schlafenden Soldaten des Paschas und ihren Gefangenen unbeachtet hinter sich lassen und sein Dasein in wohlbedachten und klar geebneten Bahnen bis zum Tage seines Ablebens fortführen. Ja, ein gar feines Leben – ohne großen Tadel, ohne große Furcht, und recht frei von Vorwürfen der Stadtbewohner. Nur hier und da einmal gestört durch das Ungemach kleinerer Unfälle auf Märkten oder Straßen, vielleicht ein Verlust an Tieren oder einen zu beweinenden verstorbenen Verwandten, möglicherweise auch ein unhöflicher, vielleicht gar streitsüchtiger Nachbarn, der ihn ein wenig quälte. Doch das wäre alles nur zu gut zu ertragen gewesen - im Vergleich zum Anspruch des alten Rufes.
Hektisch schaute er zum sicheren Hafen seines Wohnsitzes, der nach wenigen Ecken und kurzen Straßen zu erreichen wäre. Wie gerne wäre er einfach losgegangen. Doch die Reminiszenz verwehrte ihm das Gehen – das Laufen, ja selbst das Schleichen war ihm eine Unmöglichkeit. Er schlug seine Beine und sprach sie flüsternd an, sich doch endlich aufzumachen und Ibn Yunus sicher nach Hause zu tragen. Aber sie weigerten sich stoisch.
Es war ihm, als lachten sie ihn hämisch aus und spuckten ihr Veto, sich ihrer Weisheit sicher, frech ins schwitzende zerzauste Angesicht des Ibn Yunus.
Sein Klagen klang karg und leise seufzend im Nachtgewimmer der Zirpen und Falter, der Motten und Spinnen und keiner war da, ihn zu trösten. Nein, vielmehr schienen auch sie ihn zu verachten ob seiner Erbärmlichkeit, Niedrigkeit und Schwäche.
„Du trauriger trister Tropf, du armseliger Kautz, was ist nur los, dass dir die Fremde mehr gefallen mag als das, was dir sicher ist? Warum, oh ihr Propheten, habt ihr keine leichten Worte gebracht? Keine einfache Last? Warum so hoher Anspruch? Warum habt ihr so schwere Kost uns armen Erdenwesen aufgeladen? Warum habt ihr so grausame Erben, wie diesen fremden Mann, der nun hinter Gittern sitzt, aber dessen Worte ihren Schaden gnadenlos ins Ziel führten? Dessen Worte Brände im armen Ibn Yunus entfachten?“
So ging es eine Weile, und Ibn Yunus gefiel sich wohl in seiner Rolle des Opfers, gefiel sich gut als Ausgelieferter und verstand es ausgezeichnet, sich in allerlei Ausreden zu ergehen. Doch es half nichts.
Es ist, wie es war, immer da wäre. Ja es kann jeden einmal erwischen und der Blitz des Schicksals saußt hernieder ohne ankündigung. Ein ungewöhnliches Geschehen ist es, etwas, das äußerst rar gesät im menschlichen Leben vorkommt. Ob er es wusste oder nur ahnte, machte keinen Unterschied und seine Situation, die machte es erst recht nicht leichter.
Die meisten Taten des Menschen waren doch viel mehr automatische Funktionen als denn bedeutungsvolle Entscheidungen eines vorgezeichneten Lebensweges. Geburt, Schule, Studium, Arbeit, Heirat, Familie, Heimat und Alter, alles das war, was es war, nur zumeist alles andere als ein qualvoller Ruf. Ein unnachgibiges Fordern nach dem wahren, dem echten, dem kompromisslosen alten Ruf des tiefsten Seelengrundes.
Hätte er sich bloß die Ohren zugehalten, wie das Volk Noas. Hätte er dem Fremden nur nie zugehört...
Er wandte sich um und schaute weg von den Soldaten, weg von Schloss und Riegel in die karge Gosse auf der anderen Straßenseite.
Ein kleiner Mäuserich war auch noch wach und lief hastig, schleichend zu einer kleinen Pfütze. Einen winzigen, erquickenden Schluck aus dreckigem Wasser wollte er sich gönnen. Doch eine Katze war ebenfalls in jener Gosse unterwegs und wartete still auf ihre Gelegenheit. Lauernd, Reglos…
Ibn Yunus wollte rufen, den Mäuserich warnen – doch er konnte nicht. Selbst dazu fand er sich zu ohnmächtig. Und so kam es, wie es kommen musste: Gerade als der kleine Nager sich am sichersten fühlte und die Gossenpfütze sich zur dauerhaften Trinkstätte erwählt hatte – in jenem genüsslichen Augenblick schlug sie zu: die Pranke des Grauens, und umschloss den kleinen Wicht in morbider Umarmung.
Doch die Krallen der Bestie töteten nicht gleich. Nein, sie spielten ein Spiel der langsamen Sterbensqual mit dem bedauernswerten Männlein.
War es nun eine Entscheidung? War es eine Wahl, die beide hierherführte – Maus und Katze in nachtschwarzer Gosse? Entscheidung, unglücklicher Zufall oder höheres Schicksal? Es war das Leben selbst, das sie in diese Art Umstand geworfen hatte. Und sie folgten den Wegen des Seins ohne Einwand, ohne Einspruch, ohne Protest.
„Oh Ibn Yunus, du schlechter Ratgeber deiner Selbst!“ dachte er bitter, „Selbst die Tiere wissen es besser und haben verstanden, mit dem Ruf ihrer Existenz umzugehen.“
Die morbide Umarmung der Katze war sie doch gleich der Umarmung des Rufes. Die Umarmung einer echten Entscheidung, die aus vielen Optionen nur eine macht. Erbarmungslos eine... Sein eigener Entschluss war ihm nun klar. Die Krallen des Rufes hatten sich tief in seine Geistesmatrix gebohrt und waren bereits eingegraben in Denken und Fühlen. Es gab keinen Handel an diesem Tag, keine Ausflüchte und keinen Aufschub – sondern nur echte Entscheidungen.
Ibn Yunus verstand zum ersten Mal die Worte Gottes: Dass da Tage kommen, wo kein Handel mehr ist, sondern nur gerettet werden kann, wer sein Herz reinigt.
Keine Reinigung ohne Entscheidung! Keine Erkenntnis ohne Opfer!
Der gebenedeite Fluss des Paradieses – Al-Kawthar – ist unweigerlich an echte Opfer gebunden!
Endlich hatte er es begriffen!
So ging er also hin und wandte sich erneut dem kleinen Eisenstück der Öffnung zu. Er ließ fahren jede Sicherheit, und jede Genügsamkeit der wolligen Zukunft warf er von sich.
Seine zitternden Hände ergriffen den Schlüssel und drehten ihn unumkehrbar in die rechte Richtung.
Leise schob er die Tür auf, und durchbohrende Augen blickten ihn aus dunkler Ecke an.
„Der Mann des Brunnens – so, so …“, flüsterte der Fremde und ging schnellen Schrittes hinaus.
„Was steht er da, so unbewegt wie ein Narr? Wenn du nicht in einem Kerker verrotten willst, solltest du deine Entscheidung ernst nehmen und mit mir kommen, bevor die Janitscharen erwachen!“
Also hinaus in die dunkle Nacht. Der Mond war längst untergegangen, und Ibn Yunus musste los. Er musste rennen. Er musste nun ernsthaft sein – sonst würde er zuschanden werden, auch wenn er weder sehen noch ahnen konnte, was in den Spuren des Fremden zu finden wäre.
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