Die plötzliche Erinnerung des Ibn Yunus
Leise verrichtet Ibn Yunus seine Erinnerungsformeln zum Gottgedenken, die ihn sein verstorbener Meister gelehrt hatte. Sich der höheren Notwendigkeiten des Lebens zu besinnen, dafür waren sie da. Auch wenn längst die meisten seiner Brüder sie nur mehr als Floskeln daher sagten. So war es seit Jahrhunderten, und so war es auch heute. Von all den klangschweren Worten und all den bedeutungsvollen Sätzen die in religiösem Zeremoniell ausgerufen, geflüstert oder rezitiert wurde, erreichten nur wenige das Herz der Sache. Aber gut, wenigstens waren die Zungen mit sinnhaften, statt sinnentleerten Worten befasst.
Er schlenderte in den Innenhof zum Brunnen und ließ sich auf den kühlen achteckig angelegten Marmor, des Wasserspiels nieder. Gefüllt war der ausladende Platz im inneren der großen Haupt-Madrasa an diesem Abend mit allerlei Menschen. Volk und Adel, Christen und Muslime sowie sonstige Bekenntnisse tummelten sich unter den Feigenbäumen und Balustraden, des Hofes. Die Neuigkeit verbreite sich bereits vor Tagen mit den aufkommenden Morgenwinden. Sollte doch heute Abend die Disposition des großen Shaikhs Abdul Bari mit einem Mann aus den Bergen stattfinden. Ein reisender angeblicher Meister, der allerlei Ungehörtes von sich gab und dessen Lehren Unruhe in der Gegend verbreiteten. Ibn Yunus trank nach seiner Gewohnheit. In einem Zug leerte er den Tee aus seinem kleinen Kristallglas, den sein guter Freund Yahya hier jeden Abend ausschenkte. Heute Abend würde der Kaufmann mit Sicherheit einen beträchtlichen Gewinn, bei solch großer Kundschaft einnehmen, dass stand fest. Endlich öffnete sich mit lauten Knarren das Haupttor im Süden. Eine pompös geschmückte Fraktion trat ein. Der Pascha Alpay und mit ihm ein Abgesandter des Sultans in ihrer Mitte. Prunkvoll gekleidet waren sie und von Hofschreibern, geehrten Kaufleuten der Stadt und den berühmten Janitscharen umgeben und begleitet. Die Gesellschaft begab sich zum ersten Stock der Madrasa und nahm Platz auf Seidenkissen unter fein besticktem Palviondach fürstlicher Gediegenheit.
Die Diskussion würde ein Selbstläufer sein, dessen war sich der Pascha der Region sicher, schließlich war die Brillanz des Abdul Bari weithin bekannt. Ausgefeilte Herleitungen würde der Lehrer religiöser Wissenschaften diesem Fremden und seinen Irrlehren entgegenschleudern und ein Feuerwerk der Diskrepanz erzeugen, an dessen Ende der Shaikh und damit auch er der Pascha und damit auch das Reich vollumfänglich siegreich wären. Eine unverhandelte Verurteilung hätte Unfrieden ins Volk gebracht. Keine Option! Waren doch die Belastung durch die letzten Kriege mit den Heeren der Harburger nicht ohne Spuren an der heimischen Bevölkerung vorbei gegangen. Die Zeiten verlangten nach einer emotionalen Darstellung, einem Spektakel, einer Ablenkung und… einem Opfer.
Der Fremde bewacht von osmanischen Soldaten, wurde in den Innenhof gebracht. Man hatte ihn zwar vor einigen Tagen brutal festgesetzt doch im Nachgang erstaunlich gut behandelt. Und für diesen Tag war er, trotz einiger Schrammen im Gesicht, gar in neue feine Robe gehüllt und sauber hergerichtet worden.
In der Mitte des Hofes umgeben von seinen engsten Schülern, saß Shaikh Abdul Bari. Mit einer freundlichen Geste ließ er den Fremden gegenüber von sich auf einen vornehm gezimmerten und gepolsterten Stuhl Platz nehmen. Schaute ihn eindringlich an, kniff die Augen ahnungsvoll zu und eröffnete das Gespräch.
„Geehrter Fremder, ihr kennt mich? Zwischen uns beiden sei heute Abend der Teppich der Argumentation ausgebreitet. Mögen sich nun Lüge und Wahrheit auf ihm treffen!“
Der Fremde schaute auf und lächelte. Ruhig entgegnet er:
„Shaikh Abdul Bari, wie könnte ich nicht von euch gehört haben, man spricht in dieser Stadt ehrfürchtig euren Namen. Eure Madrasa ist voll, eure Bücher werden rezitiert und eure Fatwas gelten als Gesetz. Doch was führt mich in diese Angelegenheit… und kennt ihr mich!“
„Ehrwürdiger Pascha, Brüder im Glauben,“ beginnt der gelehrte Mann.
„Dieser Mann, der sich selbst der Fremde- Al gharib- nennt, ist ein Störer des Friedens. Er predigt in Karawansereien, auf Basaren und an Brunnenrändern. Das, was er spricht, ist keine Lehre, sondern ein Netz aus Symbolen, Rätseln und gefährlichem Schweigen. Weder spricht er in dem Licht der Gelehrsamkeit noch auf Geheiß des ehrenwerten Sultans. Er nennt Ibn Arabi seinen Lehrer, obwohl in diesem doch viele einen wahrhaftigen Ketzer erkennen.
Der Fremde spricht von Sehnsucht und mehr noch, wo die Gelehrten doch ausreichend deutliche Worte fanden. Er flüstert den Menschen in ihr Herz, dass das Feuer der Sehnsucht genüge, selbst wenn sie die Gebote nicht tragen können. Er hat junge Männer weinen gemacht und alte Frauen zu unerhörten Versen spiritueller Erquickung inspiriert, die keinen bekannten Text entstammen. Er bringt Aufruhr unter den Frommen! Ich fordere: Sagt nun offen, wer euch gesandt hat, was ihr wollt, und weshalb ihr das Volk in Unruhe bringt mit Bildern, wo Klarheit nötig ist… und mit Mystik hantiert, wo das Gesetz spricht!“
Der Fremde wartete eine Zeit, bis er antwortete: „Niemand hat mich gesandt, außer denn der… ach was würdet ihr dazu nur sagen… der leise fast ungehörte Ruf des Geistes (Ruh). Ihr nennt mich einen Störer. Vielleicht … vielleicht.“
Einige Momente der Stille hielten, wie auch die heiße Sommerabendwärme den Hof in seiner Mangel, dann ein Windhauch. Und der Fremde sagte klar und scharf: „Aber waren nicht alle Propheten Störer, ehe man ihre Worte in Bücher legte und ihre Feuer in Laternen sperrte? Muss nicht wenigsten einer Umher gehen, die alten Feuer wieder anzufachen! Ein Brand legen, wo Dunkelheit sich ausbreitete.“
Der Gelehrte war kurz erstaunt, doch fand er sofort die Schwachstelle solch bedeutungsschwangerer Anmaßung: „Ihr sprecht von Dingen, die man nicht wissen kann. Sprecht vom Geist-Ruh, doch sagt nicht euer Herr; - Sie fragen nach dem Ruh, sprich der Ruh ist die Angelegenheit deines Herrn und ihr wisst nur wenig davon – Wenn wir nun also wenig davon wissen, wie könnt ihr es? Seid ihr im Einklang mit dem Wort Gottes oder… Oder sprecht ihr unaufhörlich über solcherlei Dinge, die wir nicht wissen können und verwirrt die Gläubigen in ihrer Ruhe. Nein schlimmer noch, scheucht sie auf ohne den geringsten Beleg?“
Ein Raunen ging durch die Menge und auch Ibn Yunus musste den Einwand des großen Abdul Bari seine innere Berechtigung eingestehen. Doch der Fremde schien unmerklich ruhig, unbeeindruckt und erwiderte mit gefasster Stimme: „Wer spricht denn – Ihr habt nur wenig Wissen davon – Ist es ein Verbot? Oder ist es vielmehr eine ferne Einladung zur Demut? Zementiert keine Mauern aus Worten da, wo eigentlich die Tore sind. Denn wäre es verboten, auch nur zu fragen… warum spricht der Erhabene davon? Doch ich behaupte nichts vom Ruh zu wissen, wie könnte ich nur! Aber ich traue mich zu fragen. Wo ist der Ruh in diesem Moment? Ist er bei euch Shaikh Abdul Bari? Kann man ihn in euren Lehrbüchern finden oder in der Schriftrolle eurer Großväter?
Oder zittert er in der Brust des wahren Suchers, der nachts unter Sternenfirmament allein stehend betet, obwohl er nie die Wissenschaften studierte und doch versteht? Ihr nennt es Unruhe. Ich nenne es die alte Reminiszenz. Die alte Erinnerung in jedem von uns. Ahnungsvolle Erspührungen an ein Leben im Seelenreich noch vor jeder körperlichen Herabsenkung.“
Schaudern und Empörung ging gleichermaßen durch die Menge. Was für Worte kamen aus dem fremden Mund, woher nahm er seine Autorität, woher seine durchdringenden anmaßenden Anspruch. Der Shaikh war bemüht Haltung zu bewahren und wies mit der Bewegung seiner Hand die Menge zur Ruhe an. Er wusste, er müsste nun schnellen Prozess machen, um nicht noch selbst den häretischen Ideen dieses, der Apostasie nahen Sonderlings, anheim zu fallen.
„Da haben wir es doch! Die alte Leier der wolltragenden Sufisten. Asketengedünkel höre ich, sonst nichts. Und wahrlich ihr selbst habt euch entblößt. Wie so oft… Es ist der Wissensmangel gepaart mit überweltlichem Erleben, der euch in die Irre leitet. Ihr behauptetet und wir alle wurden Zeugen davon, die Weisungen der Wissenschaften hätten keine Bedeutung! Das ist die spirituelle Entgleisung vor denen ich euch alle warne, oh ihr Menschen des Verstandes. Sie sagt sich so leicht daher. Doch wir sind stets da… sie aufzuhalten! Ihr sprecht ohne Buchwissen, ohne Lehrerlaubnis des Sultans und ohne die Tradition der Gelehrsamkeit zu beachten. Das ist nicht nur gefährlich, sondern Frevel! Woher also nehmt ihr euer Wissen. Kennt ihr nicht all die Versuchungen des Teufels und seine Täuschungen, die schon Ibnu Jawsi in seinem Buch "Talbisu Iblis-Die Lockungen des Teufels" darlegte. Euer Weg ist voller Fallstricke und meine Wissenschaft ist das Messer der Befreiung. Also höret dann Pascha mein Urteil. Der Fremde ist festzusetzen und unter Hausarrest zu stellen, bis er bereitwillig von seinen Irrlehren ablässt!“
Grölen ging durchs Volk. Der Richtspruch war ihm nicht genug. Aufbrausende Forderungen nach Hinrichtungen schrien kreischend durch das Getöse der Menge. Der Pascha, der dem ganzen aus dem oberen Stockwerk der Medrese bis eben noch vornehm zuschaute, gab seinen Soldaten nervös zu verstehen das Volk hinaus zu beordern und den Fremden festzusetzen. Er verstand die Gunst der Stunde, ebenso wie Abdul Bari und seine Schüler. Sie würden bei Bedarf an diesem Mann noch ein Exempel statuieren können. Ein jeder zu seinem Vorteil. Ein jeder zu seinem Bedarf.
Blanke Säbel wurden gezückt und der Fremde bedroht aufzustehen. Mitnichten folgte er dem weltlichen Befehlen, doch er wurde herausgeschliffen.
„Eine Erinnerung kann man nicht einsperren, nicht töten, nicht in Dunkelheit hüllen, sie wird, einmal ausgesprochen, immer die bereiten Herzen erreichen! Allen Herrschern, Heeren und Hindernissen zum Trotz…“ rief er in das Durcheinander, bis die Soldaten ihn schließlich zur Ruhe brachten seiner Zelle entgegen.
Als der Trubel sich beruhigte, das pöbelnde Volk nach draußen befördert war und sich der aufgewirbelte Wortstaub gelegt hatte, ging Ibn Yunus nachdenklich durch den Innenhof. Bei seinem Freund Yahya, der bereits mit roten Wangen seinen üppigen Gewinn nachzählte, holte er sich noch einen Tee. Dann setzte er sich wieder auf den Brunnen, seine Hand im kühlen Fluss der fallenden Fontäne wand er hin und her. Er spielte einen Augenblick mit dem zarten Wasserstrahl. Dann hob er seinen Kopf und schaute Richtung Mond, der halb leuchtend über der gedankenschweren Nacht stand. Er befand sich am Scheideweg, das war ihm klar. Die Worte des Fremden trafen tief, wie vergoldet vergifte Pfeile des alten Rufes. Reminiszenz der Seelentiefe. Es war der wahre Ruf, der Ruf aus dem numinosen Tiefen jenseits der Formen, der erneut in ihm wachgerufen wurde. Als Kind hörte er ihn, junger Mann versuche er ihm zu folgen, doch im Laufe des Lebens wurde es langsam immer stiller, bis er schließlich schwieg.
Er musste lächeln, dann laut lachen, denn es war ihm eine Ironie, dass er gerade diesen Ruf im Schoße der Medresa bei seinem Lehrer Abdul Bari nicht mehr gewahrte. Als bildete die Wissenschaften der Religion eine ausgeformte externalisierende Panzerform. Eine betäubende Hülle, die einen erschlaffen ließ und Fett machte und schließlich ganz und gar abschnitt vom Drang des alten Rufes. Jener geheimen Erinnerung, die einst die Grundlagen zu dieser und allen Madrasas im der ganzen islamischen Welt bildeten und sie überhaupt erst formten.
Er lachte noch eine Weile, bis sich dieser merkwürdige Witz gar nicht mehr so lustig anfühlte. Sorgenfalten zeichneten sich nunmehr auf seiner Stirn ab und er ging hinaus. Was hatten die fremden Worte nur mit ihm gemacht. Er fühlte sich verwirrt und doch zugleich voll eigenartiger Kraft. Müde wandte er sich nach seinem Zuhause, um endlich zu seiner Familie zurückzukehren. Vielleicht fand er dort Ruhe und Morgen sähe die Welt und alles schon wieder anders aus. Spät war es geworden und unter Sternenhimmeln und in warmer Sommernacht ging er durch die bekannten Gassen des Marktes, dann zur Brücke abbiegend an Kirchen und Moscheen vorüber. Grübelnd und innerlich aufgewühlt nahm er die Stufen zur alten Steinbrücke. Keiner war mehr draußen nur ein nach vorne gebeugter Mann kam ihm noch von der anderen Seite entgegen.
Dann nach einer Kehre hinter der Brücke sah er sie die zwei Wachen vor einem kleinen Haus, die den Fremden vertrugen. Er kam näher und … sie schliefen auf ihren kleinen Stühlen träge an die Wand gelehnt. Leicht schnarchend und etwas sabbernd hingen sie da. Aber was war das, der Schlüssel war noch im Schloss der schweren Tür. Dahinter wohl der Fremde.
Was würde er nun tun, was du? Zum trauten Heim dein Leben in gewohnten Wegen fortführen oder… Den Schlussel wenden und ins Abendteuer starten...
Der Reminiszenz des alten Rufes folgen…
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