Das Zerpressen der Zeit- Reflektion Suratl Asr
Die Zeit zerpresst uns alle. In ihrer unaufhörlichen fortlaufenden Bewegung strebt alles in dieser Welt seinem endgültigen Ziel zu. Wie oft lasen wir die Suratul Asr und wie oft hörten wir sie schon und doch mag es verwundern, wie viel tiefer man Mal um Mal in ihre Bedeutungsschichten vordringen kann.
Doch was ist Zeit? Zeit kann als physikalische Einheit auftreten. Als Messgröße zeigt sie sich über das Messen bestimmter Vorgänge steigender Entropie. Und was heißt das jetzt bitte schön?
Es bedeutet, dass alle Dinge in ihrem Maß der Unordnung zunehmen, um einen Zustand geringerer Energie zu erreichen. Diesen Vorgang kann man mit geschickten Messverfahren normieren und damit Zeit als fortschreitende nur in eine Richtung sich bewegende Größe messen.
Doch Zeit ist weit mehr als das. Denn in lebendigen Systemen geschieht etwas anderes. Hier zeigt sich Zeit nicht als linearer Vektor, sondern Lebewesen durchlaufen Zyklen, bei denen ihr Maß an Ordnung und Energie zunächst wächst und erst zum Lebensende hin abfällt.
Zeit ist darüber hinaus auch auf der kosmischen Skala zu beobachten. Die Wanderungen der Gestirne, welche sich über Äonen hin in gewaltigen Zyklen durch das Universum bewegen, ist eine weitere Ausdrucksform der Zeit, die über das menschliche Maß weit hinaus reicht.
All das ist mit dem Wort Zeit verknüpft.
Und Allah schwört bei der Zeit
وَٱلْعَصْرِ
„Bei der Zeit (Asr)“
Asr ist jedoch eine spezifische Zeit. Das Wort kommt von Stamm (Ayn – Sin – Ra) dieser Stamm trägt die zentrale Bedeutung von „zusammenpressen, ausquetschen, drücken“ Aber im weiteren Sinne auch das Vergehen der Zeit, bzw. der Zeitraum des Nachmittags.
Der Nachmittag ist die Zeit des Tages, an dem bereits der Großteil des Tages ausgepresst/ genutzt wurde, daher ist es dieser Zeitraum der Asr genannt wird.
Das Wort weist auf eine interessante Natur der Zeit hin, durch welche das menschliche Leben hervorgebracht wird, sich entfalten kann und seine Essenz herausgepresst wird. Das sollte uns bereits ausreichend Raum zur Reflektion lassen.
Für die Zeit gibt es jedoch noch ein anderes Wort – Dahr – welches in diesem Zusammenhang erwähnt sei. Dieses Wort steht in einem Hadith al Qudsi in Zusammenhang mit Allah selbst.
Sowohl bei Bukhari als auch Muslim finden wir folgenden Hadith, in dem Gott über sich selbst sagt:
وَأَنَا الدَّهْرُ بِيَدِي الْأَمْرُ أُقَلِّبُ اللَّيْلَ وَالنَّهَارَ
Wörtlich sagt Allah über sich, dass er Ad-Dahr – ist und in seiner Yad (Kontrolle, Macht, Hand) liegt der Befehl, Er wandelt die Nacht und den Tag.
Dieser Zusammenhang zwischen Allah und der Zeit im Wort Dahr – weist uns auf die tiefere Realität hinter der Zeit hin. Zeit ist das Voranschreiten der Welt durch das unaufhörliche Erschaffen und Zerstören durch Allah selbst. Eine passende Übersetzung wäre „Allah ist der Manifestierer der Zeit. Denn Ad-Dahr ist das Wort für sehr lange Zeitabschnitte – quasi Weltzeitalter.
Dadurch, dass Allah die Dinge fortlaufend zerstört und erschafft, entsteht der Eindruck einer kontinuierlichen zeitlichen Bewegung des Weltgeschehens von der Vergangenheit in die Zukunft. Damit ist das, was wir Zeit nennen in seiner tieferen Bedeutung das Handeln Gottes selbst.
Doch wir sind verschleiert aus Gnade. Denn wer könnte leben, wenn er jeden Moment dieser Realität gegenüberstehen würde, sie erleben würde und seine Existenz in ehrfurchtsvollem Erstaunen über die tieferen Wahrheiten zu Boden sinken müsste. Eine Niederwerfung, aus der man sich nie erheben könnte, würde eintreten.
In seiner Kontrolle ist die Welt des Amr, die Welt des Befehls und der schicksalhaften Bestimmungen. Und über die Zeit und den Verlauf von Tagen und Nächten, tritt dieses Schicksal langsam hervor.
Wo wir wieder beim Asr-Auspressen des menschlichen Lebens angekommen wären.
إِنَّ ٱلْإِنسَـٰنَ لَفِى خُسْرٍ
„Wahrlich der Mensch ist im Verlust“
Das Wort Khusr beschreibt grundsätzlich die Tatsache des Verlierens und Schaden Erleidens. Ein äußerst passendes Wort, denn mit jedem Nachmittag mit jedem ausgepressten Tag, Minute, Sekunde, die wir erleben, verlieren wir einen Moment der uns zugeschriebenen Lebenszeit. Die Zeit nimmt uns Schritt für Schritt, was uns noch an dieser Welt bleibt.
Gleichzeitig tritt durch jeden Moment die Manifestation des persönlichen Schicksals immer deutlicher hervor. Und dieses ist immer ein Verlust, wenn es nicht erfüllt ist mit Guten. Denn in diesem Fall verliert der Mensch diesen Moment für die Ewigkeit und kann es auch durch nichts wieder ausgleichen. Er bleibt im Verlust, da er nicht hervorgebracht hat, dass ihn in anderen Sphären der Existenz nützt.
إِلَّا ٱلَّذِينَ ءَامَنُوا۟ وَعَمِلُوا۟ ٱلصَّـٰلِحَـٰتِ وَتَوَاصَوْا۟ بِٱلْحَقِّ وَتَوَاصَوْا۟ بِٱلصَّبْرِ
Doch es gibt eine Ausnahme vom Verlust:
„Außer diejenigen, welche Glauben und Gutes tun und zum Haqq(Recht/Wahrheit/Richtiges) ermahnen und zur Geduld ermahnen.“
Die einzige Ausnahme des dauerhaften Verlustes ist es, die Momente des Lebens mit guten Dingen zu füllen. Hierbei gilt es sein eigenes Herz zum Leuchten zu bringen und rechtschaffende, nützliche und gute Werke zu manifestieren. Darüber hinaus ist es wichtig zur Wahrheit und Gerechtigkeit zu mahnen, also sein Gutes dem Kollektiv zuzuführen.
Darüber hinaus kann man jedoch al Haqq – die Wahrheit auch im Zusammenhang mit Asr verstehen, was in diesem Kontext naheliegend wäre. Damit wäre die Mahnung zur Wahrheit -- der Zeit -- gemeint. Also das man dem Kollektiv die zerpressende Wahrheit der Zeit immer wieder vor Augen führt, denn nur zu schnell mag man dieses im Tumult des Lebens vergessen werden. Es braucht regelmäßige Erinnerung.
Aber warum sollte man auch zur Geduld mahnen?
Grundsätzlich hängt Geduld mit der Zeit zusammen, denn Geduld bedeutet über einen begrenzten Zeitraum eine Schwierigkeit ertragen.
Es heißt, am Anfang der Belastung ist die Geduld, aber ebenso gilt dieses auch am Ende, also am Nachmittag der Belastung. Hier heißt es durchzuhalten. Die Geduld aufrecht zu erhalten und sich gegenseitig zu motivieren, wenn man in Drangsal ist, auch noch den Asr – also den letzten Abschnitt der Belastung – wenn die Kräfte schon erschöpft sind, in Geduld auszuharren, entspricht der Vollendung der Geduld und der Vollendung dieser kurzen Sure.
So gibt es noch viele weitere Reflektionen zur Suratul Asr. Ein jeder möge selbst nachsinnen und das ergründen, was ihn darin nutzt.
Imam Ash-Shafi´i sagte: „Würden die Menschen über diese Sure reflektieren, wäre es genug für sie.“
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Kommentare
So eine schöne und inspirierende Erzählung! Und so schwer , dies zu leben! Bin gerade am Flughafen!! Diese Geschichte gibt Geduld und tut Gutes. Gerne mehr davon.
Mashallah ein wunderbarer Artikel, gerade die Stelle: Eine Niederwerfung, aus der man sich nie erheben könnte, würde eintreten.…
Einige Gedanken zum Thema Zeit:
Urteilst du über die Zeit, sie sei zu spät, es lohne sich nicht mehr und alles sei bereits vorbei? So stellst du dich auf die Stufe von jenem, dessen Zutritt zur Welt der Frist abgelaufen ist, damit unwiderruflich verschlossen. Fesselst du deine Extremitäten mit deinem selbstgemachten Urteil, über die Möglichkeiten der Handlungen, hier in der alaamul shahada. Bewegung ist nur möglich, wenn deine Gedanken die Türen öffnen. Doch maßen sich die Gedanken an, über die Zeit zu urteilen, bist du gelähmt in der sich ändernden bewegenden Welt. Ist die Frist vorbei, gibt es nur noch ach wenn ich könnte, ich würde...
Du Mensch hast nur den Moment, solange deine Frist währt. Begreifst du diese Macht? Nur die Aneinanderreihung der Momente ist der Weg. Beleuchtet mit Allahs Gnade kann dieser Augenblick das Paradies in Ewigkeit bedeuten. Mehr hast du nicht. Damit hast du alles.