Die Nacht der Bestimmung und ihre Enthusiasten

Veröffentlicht am 26. März 2025 um 12:27

Die Nacht der Bestimmung und ihre Enthusiasten

Eine Nacht im Monat Ramadan ist besonders. Sie ist erfüllt von Segen und Frieden. Es ist eine Nacht, in der Scharen von Engeln aus den Himmeln hinab auf die Erde kommen, angeführt vom Erzengel Gabriel. Es ist eine Nacht, in der die Bestimmungen für das nächste Jahr festgelegt werden, darunter die Festlegung von Todesdaten, von Krankheit, Armut und Reichtum für die betroffenen Menschen auf Erden im folgenden Jahr.

Doch welche Nacht im Monat Ramadan diese Nacht ist, weiß man nicht.
Es könnte jede Nacht sein. Diese Tatsache ist wesentlich, denn es geht nicht darum, diese eine Nacht besonders zu treffen, sondern jede Nacht im Monat mit Gutem zu füllen, um gute Gewohnheiten zu trainieren und zu etablieren.

Natürlich wünscht man sich, die Nacht zu treffen, denn die guten Taten dieser Nacht werden auf die Lebensspanne eines Menschen vervielfacht. Das Gute in ihr wird auf eine Zeitspanne von über 1000 Monaten – also ca. 83 Jahre – ausgedehnt. Es ist, als hätte man ein Leben lang jede Nacht so verbracht, wie man es in dieser Nacht tat.

Tipp - Wer jede Nacht nutzt trifft sie zu 100%.

Aber hier taucht nun ein Problem auf. Im Charakter einiger Menschen schwillt im Verborgenen eine gut getarnte Faulheit in Kombination mit dem Drang zur Aufwertung, diese Nacht vor allen anderen zu kennen und ihre Besonderheiten erreicht zu haben. Daher spielt sich jedes Jahr das gleiche Schauspiel ab.

Pünktlich in den letzten zehn Nächten, in denen die Nacht am wahrscheinlichsten stattfindet, mehren sich die Nachrichten: Jemand habe etwas geträumt, etwas Himmlisches gesehen, oder ihm seien andere Schleier genommen worden, sodass er des Nachts in die verborgene Welt geschaut habe. All dies wird als unmissverständliches Zeichen gedeutet, dass es sich um die Nacht der Bestimmung handeln muss.

Dann wird in WhatsApp-Gruppen geschrieben, denn jeder soll Bescheid wissen. Besonders lustig sind die Informanten, die dies kurz vor der Morgendämmerung tun.
Ja, danke auch, dass ihr euch am Ende der Nacht meldet – was denkt ihr, erreicht ihr mit diesem Verhalten? Außer dass beide Parteien sich ein wenig besonders fühlen dürfen, weil sie vermeintlich ein Geheimnis kennen, das anderen verborgen ist, hat niemand wirklich etwas davon.

Aber die Augen sind gespitzt, und sowohl das Wetter als auch andere Ereignisse werden intensiv beobachtet. Schließlich möchte man nichts verpassen. Und warum sollte sich dem geneigten, in sufistischen Wundergeschichten schwelgenden Chillout-Sufi nicht auch mal der Himmel auftun? Schließlich hat er sich diesen Ramadan wirklich angestrengt, sogar zweimal in der Gemeinschaft Tarawih gebetet, und der Treueschwur für den Sufi-Orden, den er vor Jahren einmal geleistet hatte, sollte sich irgendwann ja mal auszahlen. 😉

Oh welch Irreleitung, oh welch eigentümliche scheinheilige Selbstwahrnehmung.

Doch ich muss an dieser Stelle enttäuschen. Leider werde ich euch jetzt nicht erzählen, wie in diesem Video getan, auf welche weise ihr die Nacht erkennen könnt, sondern etwas anderes.
https://www.youtube.com/watch?v=Qv4kKo9bXYU

Ich sage euch: Ihr werdet nichts erkennen, was mit dieser Nacht zu tun hat. Bzw. ihr werdet mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,99999 % nichts von den übernatürlichen Erscheinungen in ihr mitbekommen.

Wie kann ich das nur sagen, was ist mit mir?
Warum steige ich nicht mit ein in die mystifizierenden Gesänge darüber, wie die Nacht doch bitte zu erkennen sei?

Lasst mich euch erklären.

  • Eine angenehme Nacht soll sie sein?
  • Eine Nacht mit leichtem Nieselregen soll sie sein?
  • Eine Nacht, die durch einen besonders sanften Sonnenaufgang beendet wird, soll sie sein?
  • Eine Nacht, in der man besondere Lichter am Himmel sehen kann, soll sie sein?

Vergesst das alles. Es kann manchmal geschehen werden – und wunderbar, wenn man es erlebt –, aber es ist nichts Universelles. Denkt nach! Jede Nacht ist auf der gesamten Erde durch unterschiedliches Wetter geprägt. An einem Ort regnet es, an einem anderen Ort ist das Wetter warm, anderswo ist es kühl. An manchen Orten sieht man den Sonnenaufgang, woanders ist es stark bewölkt.
Diese Wetterzeichen können somit nicht als universelles Zeichen gedeutet werden und entfallen. Tut mir leid...

Besondere Lichter in der Nacht? Ich denke, es gibt wohl kein Zeichen, das mehr überstrapaziert wurde und zu mehr Fehldeutungen führte als die Lichter der Nacht.

Gerade gestern wurde dieses Licht gesichtet:
https://www.youtube.com/watch?v=kaYPbkgv_BA

Nein, es war kein Zeichen der Nacht, sondern wohl eine Trägerrakete. Aber was weiß ich schon...

Doch dieses „Nacht-der-Bestimmung-sehen-Wollen“ ist nichts Neues, denn schon Ibn al-Dschauzī berichtete über dieses unpassende Verhalten in seinem Buch Die Irreführungen des TeufelsTalbīs Iblīs.

In Kapitel 12 schreibt er:

Ein Anbeter könnte ein Licht am Himmel sehen. Wenn er es während des Ramadan sieht, würde er sagen: „Ich habe Laylatul-Qadr (die Nacht der Bestimmung) gesehen.“ Und wenn er es außerhalb des Ramadan sieht, sagt er: „Die Tore des Himmels haben sich für mich geöffnet.“ Er könnte erwarten, dass etwas geschieht – und es geschieht tatsächlich, sei es durch Zufall oder durch teuflische Täuschung. Ein weiser Mensch lässt sich von solchen Dingen nicht leiten, selbst wenn es eine Gabe von Allah (Karama) wäre.

Es traf sowohl damals wie auch heute in gleichem Maße zu und bringt das Problem auf den Punkt.

Die Nacht der Bestimmung angeblich zu erkennen und diese Information dann auch noch zu verbreiten, wirkt nachweislich negativ auf alle Beteiligten. Diejenigen, die davon hören, verlieren oft ihre Motivation und unterlassen dadurch die zusätzliche Anstrengung in den Nächten des Ramadan. Diejenigen, die davon berichten, tragen die Schuld daran, den Menschen die Motivation genommen zu haben. In dieser Art der Handlung steckt nichts Gutes, weswegen alle davon ablassen sollten, sich so zu verhalten.

Schlussendlich möchte ich noch eine persönliche Geschichte erzählen, die mich in den Anfangsjahren meiner Reise zutiefst schockierte.

Es war Ramadan, und die 27. Nacht sollte in der Moschee besonders genutzt werden. Viele junge Leute versammelten sich, um die Nacht mit dem Lernen von Wissen und vielen freiwilligen Gebeten zu verbringen. Nach dem Nachtgebet saß einer der Lehrer noch im Büro der Moschee. Plötzlich ging ein Raunen durch den Raum, und der Lehrer sowie andere verließ mit gepackten Koffern die Moschee. Die Nacht der Bestimmung wurde diesen Ramadan angeblich am 18. des Monats gesehen, und man hatte es ihnen am Telefon mitgeteilt. Fast alle anderen verließen ebenfalls, dem Vorbild des Lehrers folgend, die Moschee und gaben sich der Faulheit hin. Was sollte das ? Ich wurde Zeuge tiefgreifender Charakterprobleme im größten Ausmaß. 

Die Zeugenaussage eines angeblichen Shaykh XY aus dem Nahen Osten war Grund genug, jedwede Anstrengung sausen zu lassen und sich den Befriedigungen der Genüsse zuzuwenden, anstatt sich auf dem Pfad der Rechtschaffenheit weiter anzustrengen.

Weder war das vorbildlich noch intelligent. Es war ein Armutszeugnis aller Beteiligten, aber es zeigte mir, wie unglaublich schädlich dieses Verhalten tatsächlich ist.

Ich möchte nicht ausschließen, dass es wohl den einen oder anderen rechtschaffenen Menschen geben mag, der in dieser Nacht wirklich einige der besonderen Zeichen sieht. Doch wenn es jemandem gewährt wird, dann sicher nicht den plappernden Angebern, sondern denen, die den Wert des Schweigens kennen.

 

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